70 Jahre Magnum Photos
Quo vadis, Magnum?
Vor kurzem wurde ich zur Jubiläums-Ausstellung „Magnum Manifesto“ ins Münchener Kunstfoyer eingeladen. Der Rundgang erinnerte mich an die tragende Rolle, die „Magnum Photos“ für den anspruchsvollen Fotojournalismus und das Geschichtenerzählen in Bildern bisher gespielt hat. [von Susanne Wagner]
Die Fotografen von Magnum begleiten seit 1947 die Entwicklung der Welt. Sie erzählen von Krieg, Revolution, Frieden, weltbewegenden Ereignissen, Einzelschicksalen, Freud und Leid oder fassen abstrakte Ideen in Bilder. Dabei unterliegen sie selbst dem Wandel der Gesellschaft und natürlich der Digitalisierung. Hut ab, denn 70 Jahre Bestehen sind in der rasch voranschreitenden Medienwelt eine lange Zeit.
Was ist Magnum?
Magnum Photos ist ein Kollektiv von Fotografen, in dem die Demokratie regiert. Das kann mit vielen starken Persönlichkeiten, die vielleicht unterschiedlicher Meinung sind, natürlich auch kompliziert werden. Seit der Gründung gibt es immer wieder Spannungen zwischen den Vertretern des reinen Fotojournalismus und der Fotokunst. Neue Mitglieder werden bei Magnum in Mitgliederversammlungen bestimmt und berufen – derzeit hat Magnum Photos rund 60 Vollmitglieder und etwa 3000 Bewerbungen pro Jahr. Viele große Namen waren oder sind dabei: Ansel Adams, Gisèle Freund, Bruce Gilden, Ara Güler, Thomas Hoepker, Inge Morath, Martin Parr, Alex Webb und viele mehr.
Magnum sitzt in New York, Paris, London und Tokyo. Anfangs hatte die Bildagentur die Aufgabe, die Fotografen gegenüber der damals übermächtigen Medienbranche zu stärken und angemessene Honorare einzufordern. Bis heute vertritt Magnum Photos die Rechte der Fotografen und ist Ansprechpartner für Verlage, Agenturen und Sammler. Nicht alle Projekte, Bücher und Ausstellungen laufen über die Agentur. Viele Mitglieder führen Teile ihres künstlerischen Schaffens in Eigenregie. Doch wenn etwas über Magnum Photos produziert und vermarktet wird, wird der Erlös zur Hälfte zwischen Agentur und dem Fotografen aufgeteilt. Große Gewinne werden in der Regel allerdings nicht erzielt.
„Magnum is a community of thought, a shared human quality, a curiosity about what is going on in the world, a respect for what is going on and a desire to transcribe it visually.“ Henri Cartier-Bresson
In meiner langjährigen Funktion als Grafik-Designerin für „Photo International“ sind zahlreiche Bilder von Magnum über meinen Schreibtisch gewandert. Mir gefällt, dass Magnum Photos ein Kollektiv mit Haltung ist. Die Mitglieder folgen seit der Gründung 1947 denselben Werten und arbeiten unabhängig, wahrheitsgetreu, respektvoll und mit hoher fotografischer Qualität.
Gründungsmythos als Markennarrativ
Die bekannteste Legende um Magnum dürfte die Gründung des Fotokollektivs sein: Fünf Fotografen sitzen beim Lunch mit einer Magnumflasche Champagner im MoMA in New York und rufen Magnum Photos ins Leben. Es hätte so sein können, aber von den fünf Gründungsmitgliedern waren nur Robert Capa und Bill Vandivert tatsächlich in New York. Henri Cartier-Bresson war in San Francisco und hat seinen Film „Le Retour“ vorgestellt. „Chim“ David Seymour fotografierte in Frankreich. Und George Rodger arbeitete in Nordafrika. Am 22. Mai 1947 wurde Magnum Photos Inc. ins New Yorker Handelsregister eingetragen und Robert Capa trieb einfach per Telegramm den Mitgliedsbeitrag von 500 Dollar ein. Es gibt zwar keinen Beleg für die Magnumflasche Champagner, aber jeder erzählt gerne diese Geschichte.
Die Wanderausstellung „Magnum Manifesto“
Im Mai 2017 eröffnete das IPC (International Center of Photographie) in New York die Jubiläums-Ausstellung. „Magnum Manifesto“ wurde in Paris produziert, Clément Chéroux traf die Bildauswahl, die dann wiederum mit den Magnum-Fotografen abgestimmt wurde. Nach dem Museo dell’Ara Pacis in Rom, macht sie bis Januar 2019 im Kunstfoyer der Versicherungskammer Kulturstiftung in München Station. „Magnum Manifesto“ erzählt chronologisch anhand von Dokumenten, Einzel- und Gruppenprojekten die Geschichte von Magnum Photos.
„Uns geht es darum, dem Besucher die künstlerische Bandbreite vorzustellen und verschiedene Ansätze zu bieten. Wenn sich jemand zum Beispiel nicht für die Kunst interessiert, dann gibt es noch die Entwicklung des Bildjournalismus, die Geschichte der Agentur und die Historie an sich, die er verfolgen kann.“ Andrea Holzherr, Global Exhibition Manager bei Magnum Photos
1947 bis 1968: Krieg und Frieden
Der erste Teil der Ausstellung steht ganz im Zeichen des Fotojournalismus in der Nachkriegszeit. Die allgemeine Aufbruchsstimmung, das Aufleben nach der Zerstörung, die Erklärung der Menschenrechte und vieles mehr führte die Magnum-Mitglieder zu einem neuen empathischen und humanistischen Ansatz der Fotografie. Unter der Leitung von Edward Steichen wurde im MoMA 1955 die heute berühmte „The Family of Man“ ausgestellt – eine Bestandsaufnahme mit Menschen aus 68 Ländern. 14 Prozent der 503 Exponate sollen von Magnum stammen.
In der Ausstellung „Magnum Manifesto“ treffen wir auf viele Bilder, die in der Fotoszene den Mythos Magnum begründet haben. Magnum hat einen Bildstil geprägt, den die nachfolgenden Fotografen-Generationen in Variationen bei Magnum oder auch außerhalb aufgegriffen haben. So entsteht bei bestimmten Bildern aus den 50er und 60er Jahren beim Betrachter das Gefühl, sie zu kennen. Zum Beispiel die Dokumentation der Hungerkatastrophe und Dürre 1951 in Indien von Werner Bischof (Bildnummer 11) oder das Bild von Marc Riboud zur Unabhängigkeit von Algerien 1962 (Bildnummer 18).
1969 – 1989: Medienrevolution
Mit dem Technischen Wandel in der Berichterstattung beginnt ein neuer Abschnitt in der Magnum-Fotografie. Die Zeitschriften und Zeitungen legen weniger auf, das Fernsehen ist viel schneller und zieht Leserschaft ab. Eine Anekdote erzählt, wie René Burri bei einem Japanaufenthalt im Hotel vor dem Fernseher die gleichen Szenen sah, die er wenige Stunden zuvor fotografiert hatte. So verlieren die Fotografen das Feld der Aktualität. Deshalb konzentrieren sie sich verstärkt auf Langzeitprojekte, wie Josef Koudelka, der 10 Jahre an seinem Projekt „Gypsies“ arbeitete.
Der Individualismus gewinnt an Bedeutung und die Fotografen beginnen, ihre Geschichten über Fotobücher zu publizieren. Dabei unterstützt die Agentur mit Erfahrung und guten Kontakten zur Verlags- und Medienbranche.
Noch immer herrscht die analoge Fotografie mit Negativfilm und Diapositiv. Doch es wird schon etwas bunter. In den 70er und 80er Jahren wird die Farbfotografie wenig im künstlerischen Bereich, dafür häufig für Auftragsarbeiten in der Werbung eingesetzt. Konservative Fotografen halten Schwarzweiß ohnehin für ernsthafter. Und manche Schwarzweiß-Fotografen haben schlichtweg Schwierigkeiten, sich in Farbe auszudrücken und bleiben bei den Grauwerten. Heute kommt die digitale, aber auch analoge Schwarzweiß-Fotografie für künstlerische Projekte wieder in Mode.
1990 – 2017: Geschichten vom Ende
Der letzte Teil behandelt das jüngste Kapitel der Fotografie. Es geht um das Ende des Kalten Kriegs, um den Fall der Mauer, um ökologische Probleme und natürlich auch um das drohende Aussterben der analogen Fotografie.
Viele Fotografen sind für einen Auftrag unterwegs und sammeln gleichzeitig für ihre künstlerischen Projekte oder experimentieren mit Bildern aus der Auftragsarbeit und erschaffen Neues. Magnum-Fotografen rufen immer wieder Gruppenprojekte ins Leben, um verschiedene Perspektiven in eine Arbeit zu bringen. Mit dem Langzeitprojekt „Postcards from America“ schaffen die Fotografen in wechselnden Teams eine gesellschaftliche Bestandsaufnahme. Als der bekannte Hersteller für fotografische Ausrüstung Kodak 2012 kurz vor dem Aus stand, reisten zehn Magnum-Fotografen zum Firmenhauptsitz in Rochester (NY/USA). Sie dokumentierten die Anzeichen für das Ende einer industriellen Ära und symbolisch auch den Untergang der analogen Filmentwicklung.
„Das Interessante bei „Postcards from Amerika“ war, dass die Fotografen ganz bewusst von Anfang an Social-Media miteinbezogen. Sie haben sehr intensiv über Facebook mit den Städten, in denen sie arbeiten wollten, kommuniziert. Auf diese Weise haben sie eine ganze Reihe Helfer für ihr Projekt gefunden.“ Margot Klingsporn, Agentur Focus, Hamburg
Zur Abrundung der Ausstellung erzählen und zeigen Magnum-Mitglieder in einem Film, was Magnum Photos für sie bedeutet. Und für alle, die tiefer ins Thema eintauchen möchten, empfehle ich das begleitende Buch „Magnum Manifesto“.
Quo vadis, Magnum?
Interview mit Andrea Holzherr, Global Exhibition Manager bei Magnum.
Was ist Ihr Eindruck, wie bekannt ist die Agentur in der Medienwelt?
Andrea Holzherr: Viele junge Fotografen streben eine eher künstlerische Ausbildung an und ihnen ist Magnum nicht so präsent. Ein fast tägliches Problem ist, dass in den Redaktionen wenig geschultes Personal sitzt. Es gibt kaum Ausbildungsmöglichkeiten zum Bildredakteur. Außer in Luzern kenne ich keine Schule, die Bildredakteure ausbildet. Wir haben oft mit Profis zu tun, die eigentlich wenig Ahnung haben.
Welche Rolle spielt Storytelling bei Magnum?
AH: Capa hat schon in den 50er Jahren seine Kollegen geschimpft und gesagt: „Wir müssen einfach Geschichten erzählen. Das einzelne Bild bringt uns nicht weiter. Es geht darum, dass ihr irgendwohin geht, euern Hintern dahin bewegt und dann aber auch eine interessante Geschichte mitbringt.“ Die Geschichten sind immer ganz, ganz wichtig. Und das ist das Schwierigste an der Fotografie. Ich merke das immer, wenn ich Talks oder Workshops gebe für junge Fotografen: Das Einzelbild ist nicht das Problem. Das Problem ist, eine interessante Geschichte zu erzählen – mit guten Bildern.
Wo steht Magnum und wohin geht die Reise?
AH: Es ist im Moment unheimlich schwierig, Zukunftspläne zu machen, weil wir gar nicht wissen, wohin sich der Markt entwickelt. Immer mehr Agenturen schließen und es ist nicht sicher, ob eine Agentur wie Magnum in zehn Jahren, so wie wir heute sind, noch existieren kann. Vielleicht gibt es in zehn Jahren überhaupt keine Publikation auf Papier mehr.
Ich glaube, Magnum ist interessant, dadurch dass es seiner Zeit immer so ein kleines bisschen voraus war – ohne es zu wissen. Ohne, dass die Fotografen es geplant hätten. Dadurch, dass wir die verschiedenen Marktsegmente kennen und die Fotografen natürlich die Fotografie und immer ein Austausch da ist. Dadurch waren wir sicher mit die erste Agentur, die angefangen hat, Ausstellungen zu touren.
Wie gehen Sie mit digitalen Trends um?
AH: Im Moment setzen wir als Agentur gemeinsam mit den Fotografen viel stärker auf das Digitale. Wir fangen jetzt zum Beispiel mit digitalen Workshops an. Wir wollen in dieses Marktsegment immer tiefer eintauchen, um am Puls der Zeit zu bleiben.
„Wir müssen mit der Zeit gehen, weil wir sonst auf verlorenem Posten stehen. Andernfalls wird es uns irgendwann nur noch als Archiv geben.“ Andrea Holzherr, Global Exhibition Manager bei Magnum Photos
Ist Video ein Thema?
AH: Viele von unseren Fotografen arbeiten auch mit Video und interessieren sich dafür. Das Problem ist, das können wir bei unseren traditionellen Kunden nicht verkaufen. Außerdem ist es auch finanziell viel aufwendiger Videos statt Fotos zu produzieren. Es ist ein anderes Herangehen, weil man ein Team braucht und die Postproduktion ist natürlich auch viel teurer. Wenn wir das Geld dafür haben, entwickeln wir das weiter.
Hat Magnum eine Zukunftsstrategie?
AH: Unsere Strategie ist im Moment: Wir investieren immens in den digitalen Sektor und in den Aufbau von BtoC-Beziehungen. Bisher haben wir uns ja eher auf das BtoB-Geschäft mit Lizenzierungen und so weiter konzentriert. Jetzt möchten wir mehr auf den BtoC-Sektor setzen und versuchen zum Beispiel über Workshops und Ausstellungen, direkt mit dem Betrachter in Kontakt zu treten. Vielleicht kommt das mit etwas Verspätung. Aber ich hoffe, dass wir es schaffen, die Zeit, die wir verloren haben aufzuholen und da vielleicht auch Nischen zu schaffen, die bisher noch gar nicht existiert haben.
Fazit
Es lohnt sich auf jeden Fall, sich mit der Agentur und den Protagonisten dahinter zu beschäftigen. Dafür bieten die Ausstellung und das Buch „Magnum Manifesto“ einen idealen Anstoß.
Doch die veränderte Medienwelt verlangt heute eine andere Rolle von Magnum Photos als zur Zeit der Gründung. Die Agenturmitglieder und -mitarbeiter haben einen riesigen Erfahrungsschatz im Bereich Fotografie gesammelt. Es wäre schön, wenn Magnum als großes Vorbild den Anschluss zu den nächsten Generationen findet. Dazu muss Magnum zu seinem großen Erbe, der wertvollen Erfahrung und dem Wissen eine neue Haltung entwickeln. Und das Ganze in eine Sprache übersetzen, die heute und für die Zukunft Relevanz hat. Magnum muss lernen, dass es nicht um elitäre Clubs, Ideologien, Deutungshoheit und Herrschaftswissen geht, sondern um eine unvoreingenommene, souveräne Kommunikation auf Augenhöhe.
Es wäre schön, wenn der einst große Name so wieder mehr ins öffentliche Bewusstsein rückt. Denn nach eigenen Umfragen ist Magnum selbst in der Medienbranche häufig unbekannt oder wird mit Bildagenturen wie Getty oder Shutterstock in eine Schublade gesteckt.
Ich wünsche Magnum, dass sie aus ihren Wurzeln heraus eine Vision für die Zukunft entwickeln. Dass sie fürs Hier und Jetzt wichtige Fragen stellen und Antworten bieten, ihre Werte erhalten, teilen und entwickeln.
Magnum Manifesto
Die Ausstellung lief bis 27. Januar 2019. München war die einzige Station in Deutschland.
Kunstfoyer der Versicherungskammer Kulturstiftung
Maximilianstraße 53, 80538 München
www.versicherungskammer-kulturstiftung.de
Das Buch „Magnum Manifesto“ ist in Deutsch und Englisch erhältlich.
Herausgeber: Clément Chéroux. In Zusammenarbeit mit Clara Bouveresse.
Die deutsche Ausgabe ist im Schirmer/Mosel Verlag erschienen.
Aus dem Englischen von Saskia Bontjes van Beek
416 Seiten, über 450 Bilder, davon 190 in Farbe
Format: 24,5 x 29,5 cm, gebunden
ISBN: 978-3-8296-0789-6
49,80 Euro
Die englische Ausgabe gibt es bei Thames & Hudson, NY.
Pages: 400; Artwork: 400+ illustrations, 120 in color
Size: 10.1 in x 12 in x 1.7 in
Published: July 11th, 2017
ISBN-10: 0500544557
ISBN-13: 9780500544556
List Price 65.00 US-Dollar
Magnum Photos
www.magnumphotos.com