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Interview mit der Biografin Andrea Richter

Die Biografin Andrea Richter begeistert sich für jede Lebensgeschichte, mit der sie sich beschäftigt. Aber: „Es wird nicht aus jeder Biografie ein Buch.“

Ein Stück Zeitgeschichte aus der Subjektive

Spätestens seit der griechischen Antike verfassen Menschen Biografien gegen das Vergessen. Während früher vorwiegend über bedeutende Persönlichkeiten berichtet wurde, schreibt die Biografin Andrea Richter für und über Menschen wie Du und ich. Das ist schön, denn Zeitgeschichte wird lebendiger, wenn wir sie aus verschiedenen Perspektiven begreifen können. [von Susanne Wagner]

Jeden Tag geht Wissen verloren. Menschen sterben, Kulturen wandeln sich oder verschwinden. Geschichtenerzählen ist die ursprünglichste Form, Wissen und Lebenserfahrung weiterzugeben. Und eine Biografie ist die persönlichste Form – etwas hinterlassen, Gefühle ausdrücken, dem eigenen Leben Bedeutung geben. Ich habe schon oft gehört: „Jetzt muss ich endlich unsere Familiengeschichte aufschreiben.“ Und dann vergeht die Zeit und irgendwann ist niemand mehr da, der weiß was in der Vergangenheit passiert ist. Die Biografin Andrea Richter findet es heraus und hält die Lebens- oder Familiengeschichte fest. In einem Interview erzählt sie, worauf es ihr dabei ankommt.

Ein bunter Strauß Lebensgeschichten

An einem heißen Tag – wie es in diesem Jahr so viele gab – kreuzen sich in München unsere Lebenswege. Andrea Richter heißt mich mit einem herzlichen Lachen willkommen. Im Gastgarten des „Meschugge“ sitzt mir eine energiegeladene 64-Jährige gegenüber. Sie hört aufmerksam zu und erzählt auch gerne. Von sich und ihren biografischen Arbeiten. Mir gefällt, wie sie sich für jeden einzelnen Menschen begeistert und ein Buch nach dem anderen aus ihrer Tasche zieht. Ihre bisher jüngste Auftraggeberin war Sabine Henkes. Mit 23 schrieb sie zusammen mit Andrea Richter als Co-Autorin ihre Biografie „Albtraum Traumgewicht: Mein Weg aus dem Dickicht von Essstörung und Therapien“. Die älteste Person, mit der sie eine Biografie erarbeitete, war 90 und ihre eigene Mutter: „Meine beiden Leben“ erzählt die ereignisreiche Geschichte von Elisabeth Richter. Vor zehn Jahren war diese Biografie gleichzeitig gleichzeitig Andrea Richters Erstlingswerk und ihre Abschlussarbeit der Ausbildung im Biographiezentrum. Vor ein paar Tagen feierten sie den 105. Geburtstag ihrer Mutter.


Was ist Ihr Selbstverständnis als Biografin?

Andrea Richter: Ganz einfach. Ich helfe den Menschen, das auszudrücken, was sie über ihr Leben sagen möchten, was sie weitergeben möchten. Und ich helfe ihnen, das gesprochene Wort in die Schriftsprache zu bringen und gleichzeitig ihre eigene Sprache zu erhalten.

Es gibt viele Leute, die zunächst selbst geschrieben haben. Doch wie es oft ist, merken sie nach dem zweiten Kapitel: Es ist nicht ihre Sprache, es sind nicht ihre Gedanken. Sie schaffen den Schritt nicht, ihre Gefühle und Erinnerungen verständlich zu formulieren. Da rutscht gerade die ältere Generation – für die ich hauptsächlich schreibe – in alte Schulschreibmuster hinein: Aufsätze mit Einleitung, Hauptteil, Schluss. Ich bin geboren worden dann und dann, dort und dort und habe dann das und jenes erlebt … 

Schreiben wollen die Menschen oft, um etwas zu verarbeiten, etwas zu verstehen. Das sind teils sehr langwierige Prozesse, die meistens schon weit vor mir angefangen haben, zum Beispiel mit Therapien. Vor allem betrifft das die Kriegserlebnisgeneration. Aber auch deren Kinder, die das durch die Eltern mitgekriegt haben. Die Verletzungen, die nicht ausgesprochen wurden. Bei vielen Menschen regt sich auch das Bedürfnis, das Wissen über die eigenen Erfahrungen den Kindern und Enkeln weiterzugeben, sie bei der Identitätssuche zu unterstützen.

„Bei manchen Menschen sehe ich sehr rasch, was die zentrale Aussage des Lebens ist.“

Meine Rolle sehe ich als Schnittstelle zwischen dem Leser und dem Menschen, der etwas zu erzählen hat. Ich möchte seine Lebensgeschichte verstehen und dann in eine Form gießen, die auch Außenstehende fassen können. Dabei nehme ich meine Verantwortung als Geschichtenerzähler sehr ernst. Schließlich handelt es sich bei meiner Arbeit um echte Leben. Mir ist wichtig, dass mir keine Märchen aufgetischt werden, sondern reale Begebenheiten erzählt werden – natürlich aus der Subjektive.


Was ist das Wichtigste, das Sie mitbringen müssen im Umgang mit Menschen?

AR: Freundlichkeit, Zugewandtheit, mein Gegenüber positiv bestärken und die Menschen beobachten, ohne dass sie es merken. Ich bin gern auch bei meinen Auftraggebern Zuhause, damit ich die Wohnungen und das Umfeld sehe wo sie leben – ohne, dass ich irgendetwas beurteile. Dennoch fließt es in mein Gesamtbild von dem Menschen ein. Und das ist für meine Arbeit wichtig.


Welche unterschiedlichen Arten von Biografien schreiben Sie?

AR: Da sind die Biografien, die schwierige Lebensphasen verarbeiten wollen. Dann gibt es natürlich die großen Familiengeschichten, die teilweise einige Jahrhunderte zurückreichen. Und die sich bis weit in die heutige Generation erstrecken. Hier kann es auch passieren, dass kurz bevor die Biografie in Druck geht, wieder neue Kinder geboren werden, die auch untergebracht werden wollen. Manchmal besteht das Ergebnis nur aus einigen biografischen Erinnerungen, Anekdotensammlungen oder einer chronologischen Auflistung der Ereignisse und Personen. Das allermeiste ist für den privaten Bereich. Manche lassen nur ein Exemplar drucken, manche fünf, manche fünfzig oder auch hundert – wenn es dann für die Familie und den erweiterten Freundeskreis sein soll, oder auch für Firmenkollegen, Angestellte. Es bleibt aber im privaten Bereich ohne [Verkauf über eine] ISBN-Nummer.

„Während der gemeinsamen Arbeit an einer Biografie entwickeln meine Auftraggeber oft neue Wünsche und veränderte Vorstellungen.“

Dann gibt es ein paar wenige, die mit ihrer Geschichte wirklich an die Öffentlichkeit gehen wollen. Denen sage ich gleich: Die große Öffentlichkeit ist damit nicht zu erreichen, weil es ein unglaublicher Werbeaufwand wäre. Aber es gibt Menschen, die froh sind, wenn ihre Geschichte – und dazu gehören die jüngeren Generationen – auch eine ISBN-Nummer hat und im Internet zu bestellen ist. Selbst wenn sie pro Jahr vielleicht nur zwanzig Stück verkaufen, sind sie stolz darauf, dass dieses Buch andere Leute lesen könnten.


Gehen Sie bei Biografien, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind anders vor als bei rein privaten Familienbiografie?

AR: Als Autorin denke ich nicht als erstes daran, ob eine Biografie für rein private Zwecke oder für den Buchmarkt bestimmt ist. Aus Erfahrung weiß ich, dass es eine sehr begrenzte Öffentlichkeit sein wird. Mein erster Gedanke, wie ein Buch aufgebaut wird, ist: Meine Auftraggeber sollen zufrieden sein. Sie sollen sich selbst in den Texten wiederfinden – mit Gedanken, Erlebnissen und Sprache. Das muss in erster Linie stimmen.

Und dann weiß ich natürlich, wie Bücher aufgebaut sein müssen, die über Verlage ein richtig großes Publikum finden sollen. Wenn ich für ein kleineres Publikum schreibe, kann ich mich bewusst davon absetzen.


Welcher Dramaturgie folgt eine Biografie?

AR: Wie eine Privatbiografie beginnt, hängt davon ab, welche Freiheiten ich habe. Natürlich auch davon, wie viel Arbeitszeit ich investiere, sprich, was mir gezahlt wird. Manche Kunden kommen schon mit einem halbfertigen Manuskript zu mir oder schreiben mit meiner Unterstützung selbst. Aber immer wandern in vielen Arbeitsschritten Texte und Informationen hin- und her. Dabei sehe ich schnell, wenn jemand zum Beispiel mit den Großeltern, Eltern und der eigenen Geburt anfangen möchte. Dann wird es ein chronologischer Aufbau.

Alternativ kann ich auch fern von der Geburt in einem anderen Jahr, mit einer besonderen Begebenheit, vielleicht mit direkter Rede mitten in einer Situation beginnen. Das zieht den Leser natürlich viel emotionaler in die Geschichte. Mehr Dynamik bringen unter anderem auch Zeitenwechsel. Je nach Thema schreibe ich im Präteritum, also der einfachen Vergangenheit, oder in der Gegenwart und immer in der Ich-Form.

„Jedesmal wieder spannend: Ich schreibe in der Ich-Form und schlüpfe so in die anderen Personen hinein.“

Spannungsbögen und Höhepunkte lege ich nach der Wichtigkeit der Geschehnisse an. Es können Jahrzehnte sein, die ich in einem relativ knappen Kapitel zusammenfasse. Dagegen gebe ich bedeutenden Ereignissen mehr Raum.

Andrea Richter wünscht Sabine Henkes viel Erfolg mit ihrer Biografie „Albtraum Traumgewicht“.


Nach welchen Gesichtspunkten filtern Sie die Informationen?

AR: In den Gesprächen kritzle ich mit und meine Kunden kriegen ziemlich früh von mir eine Chronik. Zu jeder Jahreszahl trage ich hier stichwortartig die wichtigsten Punkte ein – wie Geburtsdaten, oder wann jemand geheiratet hat, gestorben ist und so weiter. Dank Computer wächst das natürlich. Obwohl es nur Stichworte sind, läuft ein Jahr auch mal über zwei Seiten. Im Fall von „Albtraum Traumgewicht“ waren es am Ende etwa 35 Seiten. Und das hilft mir unglaublich, ein Leben im ersten Schritt linear zu begreifen. Um von einer Chronologie beim Schreiben abzuweichen, muss ich sie ja erst einmal kennen.

Ich ergänze die einzelnen Punkte, Erzählungen, Erinnerungen aus der Biografie mit historischen Ereignissen, die zu der Zeit stattgefunden haben. Egal, ob es die Gründung der SED war, wenn es zum Beispiel um einen Mann geht, der geflohen ist. Und dessen Vater vielleicht auch noch im Gefängnis gesessen hat, bei der Stasi. Was war zu der Zeit los? Das erzählt ein Kunde nicht, weil er vielleicht Kind war und das gar nicht aus seiner kleinen Kinderperspektive mitgekriegt hat. Aber stattgefunden hat es trotzdem. Und es hat auf seine Eltern, seine Familie eingewirkt.

„Um einen Lebensweg zu 100 Prozent in einen Text fließen zu lassen, muss ich 200 Prozent wissen.“

Ich höre genau zu und frage ganz viel nach. Ich höre, wenn ein Mensch sehr viel über eine spezielle Begebenheit erzählt, ein Jahr, ein Wohnort, was auch immer. Und ich höre natürlich auch, wenn eine Lücke dazwischen ist und über etwas nicht gesprochen wird. Wenn sich die Situation ergibt, frage ich nach. Dabei kommen auch sehr schmerzhafte Dinge ans Tageslicht. Es kann passieren, dass mir jemand sagt: „Frau Richter, das habe ich in meinem Leben noch nicht erzählt. Das habe ich bisher nur gefühlt und gedacht und das auch seit Jahrzehnten nicht mehr. Und jetzt spreche ich es das erste Mal aus.“ Das sind intensive Momente, in denen ich wirklich sehr, sehr vorsichtig bin. Wir besprechen zusammen, ob ich das in die Biografie aufnehmen soll, muss, darf oder kann. Wenn ja, in welcher Art. Und da ist natürlich sprachliche Ausdrucksform gefragt. Es soll dem Betroffenen später beim Lesen gut gehen. Ich frage mich: Was darf der begrenzte Leserkreis erfahren? Welches Bild will ich beim Leser im Kopf erwecken? Das sind oft nur ein paar Passagen oder wenige Sätze. Ein Wort anders platziert oder einen alternativen Ausdruck gewählt und schon liegt die Betonung woanders – Gottlob ist die deutsche Sprache wirklich reich an Worten.


Was würden Sie einem Biografen-Neuling mit auf den Weg geben?

AR: Man sollte nicht zu jung sein und schon einiges erlebt haben. Das kann wirklich quer durch die verschiedensten Berufe gehen. In einem breitgefächerten Leben findet man mehr Ansatzpunkte, um dem Kunden das Gefühl zu geben: Ja da verstehe ich ein bisschen was davon, das kann ich nachvollziehen.

Ganz wichtig: Empathie, Zuhören, nah dran sein. Gleichzeitig immer im Kopf haben: Wie schreibe ich darüber? Wie fasse ich das in deutsche Worte, in begreifbare Sätze und in eine bewegende Lebensgeschichte? Damit bewahrt man eine gewisse Distanz, auch davor, vielleicht in einen Strudel von psychischen Problemen hineingezogen zu werden.

Und natürlich benötigt man eine gewisse handwerkliche Fertigkeit als Autor und man muss wissen, wie man richtig recherchiert. Aber beides kann man zum Beispiel in Fortbildungen erlernen.

Liebe Frau Richter, herzlichen Dank für das lebendige Interview über Ihre Biografen-Arbeit.


Andrea Richter

Beruflicher Werdegang: Studium Innenarchitektur in Rosenheim, Studium Architektur in München, Studium in Hamburg mit Abschluss zur Kunsthistorikerin M.A.; seit 1988 in verschiedenen Redaktionen und als freie Journalistin tätig; Ausbildung zum Schreiben und Gestalten von Biografien im Biographiezentrum in Kaufering,
Beruf: Journalistin, Autorin, Biografin
Geburtsort: München, 1954

Kontakt:
Andrea Richter
Salon Schwarz Weiss 
Enzianweg 4
86984 Prem

Büro München-Solln:
Sintzenichstraße

www.salon-schwarz-weiss.de

Und das alles kann Andrea Richter für Sie tun:

  • In Gesprächen Informationen für die Chronik sammeln

  • Gemeinsam entscheiden, welche Art von Buch es werden soll

  • Zwei, drei Kapitel als Diskussionsgrundlage verfassen

  • Buchlayout mit passender Typografie und Gestaltung

  • Text und Bilder im Buchlayout zusammenführen

  • Bildbearbeitung, Druckdaten

  • Unterstützung bei der Buchproduktion und Vermarktung


Infos zu Biografiekurse und Seminare des Biographiezentrums