mehr licht – ohne das Atomkraftwerk Mühlheim-Kärlich
Ein Fotobuch erzählt, wie die Energiewende den Charakter einer Region verändert
Landmarke oder Schandfleck? Über 30 Jahre bestimmte der AKW-Kühlturm das Orts- und Landschaftsbild des Neuwieder Beckens. Der Kunsterzieher und Fotograf Michael Bertram setzt sich mit der scheinbar friedlichen Koexistenz der Region und der dominanten Industriearchitektur auseinander. In seinem Buch „mehr licht“ dokumentiert er die letzten Jahre und das Verschwinden des Kühlturms aus dem Blickwinkel der umliegenden Ortschaften – und damit auch den deutschen Ausstieg aus der Atomkraft. Im Interview erzählt Michael Bertram über seine Erlebnisse auf den Foto-Touren und seine Erfahrungen mit der Buchproduktion. [von Susanne Wagner]
Wie ist die Idee zu diesem Foto- und Buchprojekt entstanden?
Michael Bertram: Also zum einen bin ich in Rheinland-Pfalz in der Nähe des Kraftwerks aufgewachsen. Außerdem widme ich mich immer wieder fotografischen Langzeitprojekten, setze mich gerne mit historischen und gesellschaftlichen Themen auseinander. Da hat sich das Kraftwerk direkt aufgedrängt. Wir haben hier eine Landschaft, die so derart geprägt wird von diesem massiven Objekt. Es ist ja keine Industrielandschaft, wie irgendwo im Ruhrgebiet. Der Kühlturm steht einfach mittendrin im Rheintal. Rundherum Leben 300.000 Menschen, die Jahrzehnte lang diesen auffälligen 162 Meter hohen Kühlturm vor Augen hatten – und jetzt fällt das plötzlich weg. Ich habe schon andere Fotobücher herausgegeben, meist in sehr kleinen Auflagen. Weil das Thema für viele Menschen interessant ist, wollte ich das Buch dieses Mal in einer höheren Auflage veröffentlichen. Das berührt ja alle, die dort leben und es steht stellvertretend für die deutsche Energiewende.
„Ich habe bei diesem Projekt eine Menge über die Umgebung und die Menschen hier erfahren.“
Wie haben die Leute reagiert, denen sie beim Fotografieren begegnet sind?
MB: Die Leute sind ja grundsätzlich misstrauisch, wenn jemand durch die Straßen läuft und die Häuser fotografiert. Dann wird man schon mal mehr oder weniger freundlich von der Seite angesprochen: „Sie fotografieren. Was machen Sie denn?“ In meinem Fall konnte ich ganz einfach sagen: „Ich fotografiere nochmal die Umgebung mit dem Kraftwerk, bevor es verschwindet.“ Dann waren die Leute sofort dabei und fingen an, zu erzählen. Manche waren gegen das Kraftwerk, es sei ein Schandfleck, die Technologie sei bedrohlich, andere waren dafür, es sei eine Landmarke geworden. Einige erzählten von Bekannten oder Verwandten, die dort gearbeitet haben usw. Die Meinungen gingen auseinander, aber eine Sache war immer sehr ähnlich: „Naja, wenn ich aus dem Urlaub komme und ich sehe den Kühlturm, dann weiß ich, ich bin wieder Zuhause.“
Das Atomkraftwerk Mühlheim-Kärlich stand ja unter keinem guten Stern. Erzählen Sie doch ein wenig über die Geschichte des Kraftwerks.
MB: Also 1975 war Baubeginn. Damals war der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz noch Helmut Kohl. Er wollte eben wenigstens dieses eine Atomkraftwerk in Rheinland-Pfalz haben. Die Anlage wurde auch nicht dort gebaut, wo es eigentlich geplant und genehmigt worden war. Die Gegend um den Rhein ist hier nicht so ganz ungefährlich, was Erdbeben angeht. Die hatten den Reaktorblock genau auf so eine Spalte gesetzt. Das war natürlich ungünstig und sie haben den Bau einfach um 70 Meter verschoben, ohne eine neue Genehmigung einzuholen. Und genau das wurde den Kernkraftwerksbetreibern letztendlich zum Verhängnis. So kam erst mal der Baustopp zustande.
1979 passierte der Reaktorunfall mit partieller Kernschmelze in Harrisburg, USA – und das war ein baugleicher Reaktor. Dadurch gab es weitere Bedenken. Dazu kamen die Grünen und die Anti-Atomkraft-Bewegung in den Achtzigern usw. Ja, und als das Kraftwerk 1986 dann endlich in Betrieb ging, ereignete sich nach 3 Monaten der Unfall in Tschernobyl. Dann wurde wegen verschiedener Kleinigkeiten immer wieder mal abgestellt und es folgte wieder Probebetrieb. So war das Kraftwerk letztlich nur insgesamt 13 Monate wirklich am Netz.
1988 wurde der Reaktor abgeschaltet, aber alles betriebsbereit gehalten und 2000 kam die endgültige Abschaltung. Zuletzt hat Fukushima noch eins draufgesetzt. Der finale Ausstieg aus der Atomkraft soll ja eigentlich bis Ende 2022 vonstatten gehen.
Sie erzählen mit Ihren Bildern eine Geschichte. Was war Ihnen wichtig?
MB: Ich habe die fotografische Arbeit als reine Dokumentation angelegt. Mit meiner 500 Gramm leichten Digitalkamera war ich stets gerüstet für eine neue Perspektive auf den Turm. Ich habe die Bilder bewusst in Schwarzweiß gehalten, um die Bildstrecke in der Wahrnehmung zeitlich weiter in die Vergangenheit zu schieben. Am Ende des Buchs sehen Sie ein paar Farbfotos, die die Brücke zur Gegenwart schlagen.
Das Verhältnis Wohnhäuser, Landschaft, Industrie zum Kraftwerk wird als Gefüge gezeigt. Der Turm wird zum alltäglichen Objekt, das sich ins Ortsbild integriert. Aber im Grunde genommen ist es ein Fremdkörper. Ich habe die Geschichte im Buch als zeitliche Abfolge inszeniert – und zwar als Reise in die Vergangenheit. Wenn man von vorn nach hinten blättert, steht der Abbau am Anfang.
„Die Fotografien sind im Buch so angeordnet, dass man erstmal kein Kraftwerk sieht und dann wächst dieser Turm langsam.“
Das sind Michael Bertrams Lieblingsbilder aus seinem Fotoprojekt „mehr licht“.
Wie lange haben Sie denn den Abbau des Turms fotografisch begleitet?
MB: Ich habe 2014 angefangen und 2019 ist der Turm gefallen. Der Abbau des Kühlturms sollte ursprünglich nur ein Jahr dauern und 2017 starten, aber er wurde immer wieder verschoben. Zuerst sollte der Turm mit Kränen abgebaut werden. Er sollte von allen Seiten abgerissen werden. Irgendwann hieß es von den Betreibern, dass der Abriss anders gemacht wird: Wir lassen einen kleinen Roboter am oberen Rand rund um den Turm fahren und der knabbert immer drei Meter ab. Das Gerät sieht man auf manchen Bildern. Aber es gab immer wieder Probleme und das Gerät musste immer wieder von der Turmkante heruntergenommen werden. Und so hat sich der eh schon verzögerte Abbau nochmal hingezogen.
Ungefähr zwei Drittel hat man mit dem besagten Roboter abgebaut. Ab da wurde die Neigung zu stark und der Bagger wäre abgestürzt. Den unteren Stumpf, den Sie bei den ersten Bildern sehen, hat man in sich zusammenfallen lassen. Ohne Sprengung. Einen Reaktor zu sprengen, ist keine sehr vertrauensbildende Maßnahme. Man musste da auch sehr vorsichtig sein, weil die Straße daneben ist. Der komplette Rückbau der gesamten Anlage wird jetzt noch bis Ende der 2020er Jahre dauern.
Wie ist die Finanzierung des Buchs zustande gekommen?
MB: Ich dachte, dafür muss ich nur die Verbandsgemeinde Weißenthurm ansprechen, die Stadt Mülheim-Kärlich oder die Stadt Neuwied, die sich immer gegen das Kraftwerk gewehrt hat oder Koblenz oder Firmen in der Umgebung, Stiftungen und so weiter. Aber das war eine falsche Annahme. Ich hatte Jubel über den Abriss erwartet. Aber es war eher so, dass alle gesagt haben: „Ja, ja, sehr bemerkenswert, aber Gott sei Dank ist es vorbei … das interessiert uns jetzt nicht mehr.“ Noch nicht einmal Ausstellungs-Möglichkeiten wurden mir angeboten. Es sieht so aus, als ob die Leute erst einmal eine Pause vom Thema bräuchten.
„Dadurch, dass es ein Langzeitprojekt war, dachte ich blauäugig, ich hätte genug Zeit, um Unterstützer für das Buchprojekt zu finden.“
Und für Sponsoren ist die Gemeinnützigkeit immer wichtig. Ich bin Privatperson und so habe ich eine gemeinnützige Institution gesucht, die mein Projekt unterstützt. Das war dann der Geschichts- und Altertumsverein für Mayen und Umgebung. So konnten sich auch Banken, Unternehmen und sogar der Kraftwerkbetreiber RWE beteiligen.
Über eine Bank lief dann auch das Crowdfunding. Allerdings würde ich das nicht mehr bei so einer kleinen regionalen Plattform machen. Man erreicht einfach zu wenig Menschen. Und ich musste mich auch um alles selbst kümmern, was so gar nicht mein Fachbereich ist. Ich hatte auch keinen finanziellen Vorteil von dieser Plattform. Mein Rat wäre hier, sich eine große Crowdfunding-Anbieter zu suchen und erst einmal eine digitale Community aufzubauen.
Wie lief die Realisierung des Buchs ab?
Bei der Suche nach einem Verlag war ich erst nach vielen Anschreiben erfolgreich. Die Dr. Cantz’sche Verlagsgesellschaft (DCV) hat mir ein Angebot gemacht. Die komplette Produktion mit Graphiker usw. sollte ich bezahlen und der Verlag hat angeboten, den Vertrieb und auch das Marketing zu übernehmen. Da habe ich natürlich schon überlegt, ob ich die hohen Kosten und das Risiko wirklich eingehen soll.
„Ich wollte das Buch machen und mit einem etablierten Verlag konnte ich es einem viel breiteren Publikum vorstellen als im Eigenverlag.“
Die Zusammenarbeit mit dem DCV lief recht gut. Offene Kommunikation, gute Organisation und das Buch ist überall zu finden. Die Hälfte der Auflage hat der Verlag behalten und die andere Hälfte liegt bei mir und ich verkaufe sie direkt. Der DCV hat ein Buchformat und Papier vorgeschlagen, ich habe mir das angesehen und fand es gut. Auch die Schwarzweißbilder wurde so reproduziert, wie ich es mir vorgestellt habe. Das war schon in Ordnung.
Im Nachhinein gesehen hätte ich mir ein besseres Angebot für die Lithographie gewünscht. Da ich ja schon alle Fotos fertig bearbeitet digital geliefert hatte, empfand ich den Preis dafür als zu hoch. Damals hatte ich davon keine Ahnung, aber heute würde ich ein Vergleichsangebot einholen oder mir einen externen Graphiker suchen, der das alles macht.
Wird es eine Ausstellung geben?
In ganz kleinem Rahmen habe ich bereits eine Buchveröffentlichung mit Ausstellung hier in Mayen veranstaltet. Das war wegen Corona damals nicht so einfach. Eine „normale“ Ausstellung möchte ich auf jeden Fall noch organisieren. Im Haus der Photographie des Landesmuseum Koblenz ist voraussichtlich für 2025 eine Ausstellung geplant. Aber mein Hauptanliegen war von vornherein das Buch.
„Was ich an Ausstellungen liebe ist, dass man mit den Leuten ins Gespräch kommt.“
Was gibt es noch über den Menschen und Fotografen Michael Bertram zu erzählen?
Also ich habe ja die Gegend hier praktisch nie verlassen. Ich wurde 1968 in Mendig geboren und bin aufgewachsen in Plaidt, das auf halbem Weg zwischen Mayen und Koblenz liegt. In der Schule war ich in Andernach und Neuwied und studiert habe ich von 1993 bis 1995 an der Uni Koblenz. Ich bin Lehrer, Kunsterzieher. Irgendwann habe ich geheiratet und bin so vor über 20 Jahren in Mayen gelandet.
„Für mich hat Fotografie mit Freiheit zu tun. Ich folge nur meiner künstlerischen Idee, in die ich meine Persönlichkeit einbringe.“
Als Kind fand ich die Agfa Rapid faszinierend, mit der meine Eltern fotografiert haben. Ein günstiges Gerät mit 3 Einstellungen: nah, mittel und fern. Eine eigene Kamera hatte ich von meiner Schwester bekommen, eine Minolta. Ich habe schnell gemerkt, was man alles damit machen kann. Ich habe dann das Studium in Koblenz angefangen. Bei Kunst ging es natürlich ums Malen, Zeichnen, plastisches Gestalten und so weiter. Aber mir war das Künstlerische im Lehramtstudium zu oberflächlich. Mit ein paar Leuten habe ich eine Künstlergruppe gegründet und in einem alten Schlachthof ein Atelier bezogen. So konnte ich mich mit Fotografie auseinandersetzen und ins praktische Arbeiten kommen und meine Ideen umsetzen.
Der Fotograf
Michael Bertram, geboren 1968 in Mending, lebt in Mayen, Rheinland-Pfalz und arbeitet als Kunsterzieher. Fotografie ist für ihn eine Möglichkeit, sich künstlerisch auszudrücken und mit gesellschaftlichen und historischen Themen zu befassen. So sind bereits einige fotografische Langzeitprojekte entstanden für Bücher in kleiner Auflage und Ausstellungen.
www.mg-bertram.de
Das Buch
mehr licht
Fotografien, Konzept: Michael Bertram
Text: Angelika Hunold
Verlag: DCV Books/Dr. Cantz’sche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Esslingen
Veröffentlicht 2021, Hardcover
29 x 24 cm, 176 Seiten, über 86 Abbildungen, Deutsch
ISBN 978-3-96912-047-7
35,– Euro
Bestellen Sie das Buch direkt beim Fotografen Michael Bertram: mg-bertram@web.de