Buchtipp: Portraitfotografie
/Fünf Fotokünstler als Menschenbeobachter und Storyteller
Lebenswege, persönliche Entwicklungen und Beziehungen, erzählt in feinfühligen Bildstrecken von zeitloser Klasse. [von Susanne Wagner]
Meine langjährige Tätigkeit als Gestalterin und Bildredakteurin für das Fotokunstmagazin „PHOTO International“ bringt es mit sich, dass unsere Bücherregale aus allen Nähten platzen. Regelmäßig schmökere ich in unserem Fotobuch-Fundus und dabei konnte ich gerade wieder ein paar Schätze heben.
Meine fünf Fotobuch-Favoriten
Die Bücher, die ich Ihnen in diesem Beitrag vorstelle, besitzen für mich allesamt das Zeug zum Klassiker im Genre Portraitfotografie. Denn die Aufnahmen wirkten und wirken prägend – auf die Fotografie an sich oder auf die Wahrnehmung der gezeigten Personen. Die Publikationen stammen von sehr unterschiedlichen Künstlern, die Bilder entstanden zu unterschiedlichen Zeiten und portraitieren sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Dabei verbindet sie aber etwas Wesentliches: Alle Fotografen besitzen die seltene Fähigkeit, Menschen und ihren Lebensumständen sehr nahe zu kommen. Ihre Portraits gestatten intime Einblicke, frei von plattem Voyeurismus. Die Aufnahmen und Bildstrecken halten persönliche Momente fest und spüren Lebenswegen nach. Sie erzählen anrührende, inspirierende Geschichten von äußeren Umständen, persönlichen Entscheidungen und Beziehungen, die uns Menschen ausmachen.
Sentimental Journey 1971 – 2017
„Ich habe es Yōko zu verdanken, dass ich Fotograf geworden bin.“ Das sagt Nobuyoshi Araki, einer der bekanntesten japanischen Fotografen, über seine Frau. Doch Yōkos Einfluss reicht noch viel weiter: Sie war von ihrem Kennenlernen 1968 bis zu ihrem Tod 1990 sein wichtigstes fotografisches Thema. Der Auslöser dafür war schlicht Liebe.
Wer jetzt süßlichen Kitsch befürchtet, den kann ich beruhigen: Die Bilder besitzen ihre eigene Poesie – empfindsam und schonungslos zugleich. „Sentimental Journey“ ist eine fotografische Ich-Erzählung über die Hochzeitsreise der beiden. Araki prägte für dieses Genre den Begriff Ich-Fotografie.
Für eine Ausstellung im Tokyo Photographic Art Museum im Jahr 2017 wurde Arakis Fotobuch „Sentimental Journey“ von 1971 in erweiterter Form neu aufgelegt.
Auch in Europa war Araki kürzlich zu sehen: Das Salzburger Museum der Moderne präsentierte eine ganze Reihe Originalabzüge und Bücher im Rahmen der Ausstellung „I Photo. Japanische Fotografie 1960 – 1970“. Das war der Anlass, wieder in unseren Buchbeständen zu schmökern.
Nobuyoshi Araki Sentimental Journey 1971 – 2017
Supervised by Tokyo Photographic Art Museum
Herausgegeben von Hiromi Kitazawa
Japanisch/Englisch, 2017, Hehe Tokyo
Gebunden, 288 Seiten, 18,5 x 25,5 cm
ISBN 978-4-908062-18-6 C0072
www.hehepress.com
André de Dienes. Marilyn Monroe
Von Norma Jeane zu Marilyn Monroe: Bert Stern war der letzte, der die Hollywood-Ikone vor der Kamera hatte. Aber André de Dienes kann für sich beanspruchen, der erste, der Entdecker, gewesen zu sein. 1913 als Andor Ikafalvi de Dienes im damaligen Siebenbürgen geboren, wurde er in den 1940er Jahren mit Akt- und Glamouraufnahmen unter dem Namen André de Dienes in den USA bekannt.
Er tauchte auf, als Marilyn noch Norma hieß. Das Mädchen, das er fotografierte, kannte weder Hairdresser noch Stylisten. Ihre Posen waren völlig natürlich, unbeeinflusst vom späteren Schauspielunterricht. Viele Bilder wirken wie spontan während der Flitterwochen aufgenommen. Und das ist kein Zufall, denn André de Dienes war für die zukünftige Marilyn mehr als ein Fotograf: Liebhaber, kurzzeitiger Verlobter, lebenslanger Freund.
Vier Jahrzehnte nach dem Tod des Leinwandstars veröffentlichte Taschen in Zusammenarbeit mit der Witwe des Fotografen den Bilderschatz aus dem Nachlass. Motive, Kontaktabzüge und persönliche Notizen dokumentieren die frühen Jahre der Monroe in einem Coffee Table Book und dem Faksimile des Tagebuchs von André de Dienes. Ich bin glückliche Besitzerin dieser limitierten Sonderausgabe, die inzwischen vergriffen ist.
Deshalb empfehle ich hier die aktuelle Nachfolgepublikation in der Bibliotheca Universalis von 2015: Das kompakte Format enthält eine Kombination der Fotografien und Tagebuchnotizen.
André de Dienes. Marilyn Monroe
Herausgegeben von Steve Crist
Deutsch (Tagebuchnotizen in Englisch), 2015
Bibliotheca Universalis, Taschen Deutschland
Gebunden, 616 Seiten, 15,1 x 19,5 cm
ISBN 978-3-8365-5930-0
www.taschen.com
Von Vätern und Söhnen
Karsten de Riese dokumentierte über fast fünfzig Jahre hinweg ein soziales Phänomen: die Beziehung zwischen Vätern und Söhnen. Der 1942 in Eisenach geborene Fotograf arbeitet mit Vorliebe an Langzeitprojekten. Zum Beispiel begleitete er über drei Legislaturperioden das parlamentarische Geschehen im Deutschen Bundestag und von 1982 bis 1989 verfolgte er die Vorgänge an der deutsch-deutschen Grenze. Bekannt wurde er als offiziell beauftragter Fotograf für das Organisationskomitee der Olympischen Spiele in München zwischen 1970 und 1972.
„Von Vätern und Söhnen“ beobachtet den Dialog zwischen den Generationen in sensiblen Schwarzweiß-Aufnahmen aus einer respektvollen Distanz. De Riese gelingt so eine aussagekräftige Sozialstudie von 36 Familien, angereichert mit sehr persönlichen Interviews, Statements und Zitaten. Darunter finden sich auch eine Reihe prominenter Paarungen mit Vertretern aus Publizistik, Kunst und Politik.
Von Vätern und Söhnen. Geschichten zwischen Generationen
von Karsten de Riese
mit einem Essay von Rainer Stephan
Deutsch, 2013, Knesebeck Verlag München
Gebunden, 176 Seiten, 24,5 x 27,5 cm
ISBN 978-3-86873-493-5
www.knesebeck-verlag.de
Im Verlag vergriffen; online gebraucht erhältlich.
Spuren der Macht
Was ist der Preis der Macht? Wie verändert sie den Menschen? Acht Jahre lang fotografierte und interviewte Herlinde Koelbl führende Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, um diesen Fragen nachzuspüren.
Die renommierte Fotografin und Dokumentarfilmerin fand erst relativ spät zur Fotografie, nämlich 1976. Bemerkenswerterweise arbeitete die vierfache Mutter und fotografische Autodidaktin schon bald für bekannte Blätter wie Stern, Die Zeit oder New York Times und veröffentlichte zahlreiche Bücher.
Koelbl erzählt feinsinnige Geschichten über Menschen. Das gelingt der 1939 in Lindau geborenen Künstlerin im Dialog. So entsteht ein Miteinander, das Vertrauen schafft. Vor ihrer Kamera muss niemand als Model funktionieren, die von Koelbl Portraitierten können sich öffnen und einfach sie selbst sein. Ihre Aufnahmen waren und sind in vielen internationalen Museen und Galerien zu sehen. Im Jahr 2008 hatte ich die Gelegenheit ihr Projekt „Haare“ in einer Ausstellung der Villa Stuck kennenzulernen.
Während der Arbeit am Projekt „Spuren der Macht“ begleitete Herlinde Koelbl ihre Protagonisten durch alle Höhen und Tiefen. In ruhigen, nie gefälligen Fotoserien verfolgt sie über Jahre die Veränderungen in Physiognomie und Körpersprache. In intensiven Interviews bespricht sie mit Charakteren wie Angela Merkel, Joschka Fischer oder Heinrich von Pierer, was Menschen motiviert, die Zumutungen eines Lebens im Fokus der Öffentlichkeit anzustreben und auszuhalten.
Spuren der Macht. Die Verwandlung des Menschen durch das Amt. Eine Langzeitstudie.
von Herlinde Koelbl
Deutsch, 2010, Knesebeck Verlag München
Gebundene Sonderausgabe, 408 Seiten, 24 x 29 cm
ISBN 978-3-86873-309-9
www.knesebeck-verlag.de
The distance between us
Für die US-amerikanischen Zwillingsbrüder Chris und Nick hat das Schicksal grundverschiedene Lebenswege bestimmt: Christopher Capozziello ist nur wenige Minuten älter und erfolgreicher Fotograf. Nick leidet seit seiner Geburt 1980 an infantiler Zerebralparese, einer motorischen Behinderung, und ist abhängig von seiner Familie.
Die lange fotografische Auseinandersetzung von Chris mit seinem Zwillingsbruder mündete in diesen sensiblen wie auch schonungslos fotografierten Bildband „The distance between us“. Chris beobachtet durch die Kamera, wie sich sein Zwillingsbruder auf eine Art und Weise durchs Leben kämpfen muss, die ihm selbst erspart blieb.
In sehr persönlichen Schwarzweiß-Aufnahmen zeigt der Fotograf Augenblicke aus allen Lebensbereichen seines erwachsenen Bruders. Parallel dazu erzählt er von ihrer gemeinsamen Kindheit und dem oft schwierigen Alltag. 2012 begeben sich die Zwillinge auf einen Roadtrip durch den Südwesten der USA. Tagebuchnotizen von Chris begleiten die teils farbigen Polaroids. Den Abschluss bildet ein Mix aus Schnappschüssen und Gedanken zum Roadtrip aus Nicks Perspektive.
Ich hatte die Gelegenheit die Zwillinge während ihrer Präsentation auf der Frankfurter Buchmesse 2013 kennenzulernen. Auf ihren Reisen kümmert sich Chris ums Gepäck, die Termine und so weiter. Er achtet darauf, Nick nicht zu überfordern. Am Ende der Buchpräsentation sind beide erschöpft. Ich schaue dem ungleichen Zwillingspaar nach, wie sie langsam über den Innenhof der Messe dem wohlverdienten Feierabend entgegen wandern.
The Distance between us
von Christopher Capozziello
Konzept von Christopher Capozziello und Lois Lammerhuber
Englisch, 2013, Edition Lammerhuber Baden bei Wien
Gebunden, Hardcover mit „French Fold“-Schutzumschlag
208 Seiten, 24 x 30 cm
ISBN 978-3-901753-61-9
www.edition.lammerhuber.at
Politisch, utopisch, menschlich – fünf Fotobücher über das aktuelle Weltgeschehen: Weit weg von Brüssel, No Man’s Land, Yalla Habibi – Living with War in Aleppo, Ctrl-X – A topography, Inside North Korea.